Eine amerikanische Erzählung

Eine amerikanische Erzählung

 

Wie alles begann

 

In einem Krankenhaus im Stadtteil Brooklyn in New York kam am 6. Juni 1922 ein gesunder Junge zur Welt. Er wog genug und gab auch sonst keinen Anlass, sich Sorgen zu machen. Seine Eltern tauften ihn auf den Namen John und sein Großvater, der ein guter Bergführer war, stand für den Namen Pate.

 

Schauspiel des Lebens

 

"Suchen jungen Arbeiter mit Grips. Bezahlung nach Absprache. Sie finden unser Büro 64 West, 12. Straße." Aufmerksam studierte John Bowlen den Anzeigenteil des New Yorker. Es gab nicht genug Jobs für junge Leute in diesen Tagen. Außer man ginge zur Army. Die Armee war der letzte Rettungsanker für manche Jungs, Traumjob oder die Hölle, es kam nur auf die Betrachtungsweise an. Es war ungewöhnlich kalt an diesem Morgen im Mai, Bowlen trug einen langen Mantel und feste, schwarze Lederschuhe, als er aus dem Zeitungsladen heraus die Straße betrat. Er hatte seine ganze Kindheit in New York verbracht, ausgenommen die Ferienmonate, die oft genug die vierköpfige Familie aus dem Dschungel der Großstadt heraus und auf das Land brachte. Montana war das Ziel und Großvater, der dort lebte und dessen Alter wohl nur Bowlens Vater genau wusste.

 

Montana war ein Traum. Lange, ausgedehnte Felder, Hügel, Berge und saftiges Grasland. Brady Bowlen, Johns Bruder, liebte es mit Großvater Fischen zu gehen, und John ließ es sich nicht nehmen, die zwei zu begleiten und ihnen Tipps und Ratschläge zu geben, gleichwohl er am wenigsten Ahnung hatte. Auch wenn die Beute nie riesig ausfiel, außer 1932, als Großvater eine 70 cm Forelle fing, wurde oft Abends gegrillt und alle saßen zusammen am Feuer. An Geschichten fehlte es nicht, und neben John und seinem Bruder konnten auch ihre Eltern den Erzählungen Großvaters lauschen, die des öfteren durch Vaters Einwände noch ergänzt wurden. Um Indianer ging es da, um wilde Bären und um die Zeit, als noch viele Sklaven ins Land geholt wurden und auf großen Baumwollfeldern arbeiten mussten.

 

Die Kinder hatten viel Spaß in ihren Schulferien und Zeit und Gelegenheit durchzuatmen. Brady war ein hervorragender Schüler, er schrieb fast nur Einsen. Manchmal schien es fast, er würde sich selbst benoten und natürlich die beste Note geben. John stand dem etwas nach. Er war begabt, ja, aber es fehlte ihm manchmal am nötigen Fleiß. Auch interessierte er sich nicht so für die ganzen Daten in den Geschichtsbüchern und wie groß Mitteleuropa sei, und welches die Hauptstadt Portugals. Er liebte den Kunstunterricht und dachte sogar daran, später Schauspieler zu werden. In New York war dafür selten Zeit, aber wenn die Familie auf dem Land war, sahen sie sich manche Vorstellung fahrender Schauspielgruppen an und John klatschte begeistert Beifall. Es waren weniger die Stücke, die ihn interessierten, die Handlung war ihm nebensächlich und zu verworren. Er konnte sich für die Darstellung, die Kleider, die Bühnenbilder und die hübschen Mädchen begeistern.

 

Einmal traute er sich ein Mädchen anzusprechen. Es war irgendein Stück von William Shakespeare aufgeführt worden und John traf zufällig beim Umherstreifen eine noch sehr junge Schauspielerin, ungefähr in seinem Alter. "Hallo." sagte er schüchtern. "Hi!" erwiderte sie. "Hast du das Stück gesehen?" "Ähm, ja war echt toll." "Danke, wie heißt du?" "Ich bin John." "Ich heiße Marissa." "Machst du das schon lange?" fragte er, vielleicht war es eine etwas dumme Frage, sie war ja ca. erst 10. "Eigentlich solange ich denken kann. Ich bin mit meinen Eltern immer unterwegs. Mein Dad hat die Hauptrolle gespielt!" "Ja, der war echt toll." "Und woher kommst du?" "Ich wohne in New York. Das ist ganz weit im Osten drüben." "Cool, da würde ich auch gern mal hin." "Ach, man kanns aushalten." "Machs gut, wir müssen los." rief Marissa und gab ihm flüchtig die Hand. John Bowlen drehte sich und sah ihr lange nach.

 

Als er das riesige Gebäude betrat, fielen John die vielen Leute, Angestellte, Handwerker und Reinigungspersonal auf. Jeder ging behäbig seiner Arbeit nach, keiner schien zu viel oder zu wenig Zeit zu haben, keiner wirkte richtig glücklich oder unglücklich. Im zweiten Stock des Gebäudes sollte er sich bei einem Herrn Miller melden, wie er am Eingang erfahren hatte. "Nun, sie wollen also unser neuer Mann sein?", fragte dieser John Bowlen und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. "Ich denke ja.", erwiderte Bowlen. Mister Miller, ein Herr mittleren Alters mit wenig Haarwuchs, erläuterte John Bowlen alles, was er wissen musste, Größe der Firma, Gehalt, zukünftige Aufgaben, usw. John Bowlen konnte sofort anfangen. Er musste einige administrative Aufgaben erledigen, und was halt sonst noch alles anfiel. Geschafft verließ Bowlen das große Gebäude um sechs Uhr abends und versuchte eins der Taxis zu erwischen, deren Lichter sich in den Pfützen der Straße widerspiegelten.

 

Ein Abend mit Miles

 

Es war 1952, und Miles Davis war bereits jetzt eine Legende. Die Jazzclubs in denen er regelmäßig auftrat, waren jedesmal voll bis auf den letzten Platz und manche tanzten zu seinen sagenhaften Performances. Ein Zahnarzt hatte ihm das Spiel ohne Vibrato beigebracht, er musste wohl die Anatomie des Mundes zu gut gekannt haben. An diesem Abend fand sich auch John Bowlen in dem Nachtclub im Stadtviertel Queens ein. Er war nicht unbedingt ein glühender Verehrer des Jazz, aber er schätzte gut gespielte Livemusik und gemütliche Nachtclubs. Das Poodle war beides. Gute Konzerte und ein stilvolles Ambiente, das einem Platz zur Entspannung bot. Bowlen hatte es sich auf einem roten Samtsofa bequem gemacht und genoss seinen Martini. Okay, manch unliebsame Bekanntschaft hatte er hier schon gemacht, aber es waren auch positive darunter.

 

John Bowlen hatte selbst einmal versucht Saxofon zu lernen, es war katastrophal. Er konnte die Töne nicht richtig treffen und die Noten blieben ihm ein Rätsel. Sein Lehrer gab es irgendwann mit ihm auf, Bowlen war auch froh darüber. Aber er kaufte sich Jazz-Alben aller Größen, Charlie Parker, Thelonious Monk, usw. Man konnte in New York gut Platten erwerben, außerdem gab es viele angesagte Liveclubs. So wurde die Musik ein ständiger Begleiter, der ihm seine freie Zeit angenehm machte. Oft traf er sich mit Freunden in den verschiedensten New Yorker Clubs, an denen es keinen Mangel gab. Es groovte einem schon auf der Straße entgegen und somit war ein "Aufreißer" überflüssig. John und seine Freunde jedoch wussten genau in welche Clubs sie wollten, nur hin und wieder ließen sie sich überraschen.

 

Sie saßen also im Poodle und warteten auf Miles Einsatz. Dann fing er zu spielen an, er spielte "Embraceable You" von George Gershwin. Für John Bowlen war es ein unvergesslicher Moment. Er konnte die Musik in sich aufnehmen, sie geradezu einatmen, als wäre sie angenehme, frische Luft. Nie hat jemand davor oder danach die Trompete so, auf diese ganz spezielle Art und Weise gespielt. Gegen Ende des Stücks spielt das Saxofon zusammen mit der Trompete, während das Klavier weiterhin brav die Bassbegleitung übernimmt. John war absolut relaxed. Das musste es sein, die totale Entspannung. Es wurde wenig gesprochen in diesen Jazzclubs, die Musik war die Hauptsache. John war meist mit zwei Freunden unterwegs: Marissa und Danny, der eigentlich Daniel hieß, aber keiner nannte ihn so, von seinen Eltern abgesehen.

 

John verabschiedete sich und machte sich auf den Nachhauseweg. Langsam ging er voran, er war leicht angetrunken und musste sich etwas konzentrieren. Er ging lange dahin, allein auf dem Bürgersteig und über ihm schien der Mond, der fast vollständig zu sehen und nur leicht von ein paar Wolken verhangen war. John dachte nach und reflektierte sein bisheriges Leben. Er versuchte Gutes zu finden, er versuchte Schlechtes weniger wichtig erscheinen zu lassen. In diesem Moment konnte er sein ganzes bisheriges Leben Revue passieren lassen, seine Gedanken waren klar und ungetrübt und er versuchte herauszufinden, ob es sich bisher gelohnt habe oder nicht. Lange dachte er nach, wälzte Gedanke um Gedanke, spielte Situation um Situation nochmal durch, versuchte sich an lange Vergangenes zu erinnern und es abzuwägen.

 

Als er in die Straße, in der sein kleines Apartment lag, einbog, war er sich noch nicht sicher, wie sein kleines Gedankenspiel ausgegangen war. Überwogen die guten Seiten? Vielleicht die schlechten? Hatte er genug gekämpft, genug probiert? Hatte er sich immer „richtig“ seinen Mitmenschen gegenüber verhalten? Als er schließlich auf seiner alten Matratze lag, war er sich immer noch nicht ganz sicher. Von der Straße herauf konnte man Schritte Angetrunkener hören, die vorüber gingen und sprachen. Ein altes Fahrzeug rauschte vorbei. Langsam wurden seine Gedanken ruhiger und er war sich ziemlich sicher, dass er fast immer versucht hatte, sein Bestes zu geben und ein guter Mensch zu sein. Das Leben in all seinen Facetten schien sich allerdings seltenst bestimmen zu lassen. Er löschte sein Licht und schlief über diesem, letzten Gedanken schließlich ein, während eine Turmuhr in der Nähe halb drei schlug.

 

Ein Sommertag im Central Park

 

Es war der erste warme Sommertag diesen Jahres und im Central Park in New York konnte man viele Menschen beobachten, die spazieren gingen, sich einen Frisbee zuwarfen, oder einfach nur auf einer ausgebreiteten Decke in der Sonne saßen. Kinderlachen, Hundegebell und Vogelgezwitscher war zu hören; der Park war voller Leben. Zwischen all diesem Treiben konnte man einen Herrn reiferen Alters beobachten, der gemächlich auf einem der Wege dahinschlenderte. Er war gut gekleidet und hielt in der rechten Hand einen geschnitzten Spazierstock, auf den er sich hin und wieder stützte. Sein Name war John Bowlen und seit drei Wochen war er nun pensioniert. Er war ein einfacher, aber gut bezahlter Angestellter in einer großen New Yorker Firma gewesen und konnte sich nun auf eine stattliche Rente freuen.

 

„Welch herrlicher Tag“ dachte er sich, wie er an grünen Flächen und hohen Bäumen vorüberging. Die Sonne strahlte auf ihn herab und er freute sich seines Lebens. Wie er nun so dahinging, kam er an einer Parkbank vorbei und wollte die Gelegenheit zu einer Pause nutzen. Es saß bereits ein Herr auf der Bank und zu diesem wollte er sich setzen. Er musterte ihn aus dem Augenwinkel und irgendwas an diesem Mann kam ihm bekannt vor. „Nein ich täusche mich doch“ dachte er, aber um seiner Vermutung nachzugehen, wagte er noch einen Blick. „Ist das nicht ... Monsieur Bachard!“ Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Juni 1944. Langsam kam die Erinnerung zurück.

 

John Bowlen war im Krieg Fallschirmspringer gewesen. Sie waren in Frankreich in der Normandie mit Fallschirmen abgesprungen, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Die Franzosen waren auf Seite der Amerikaner, doch manche wussten das nicht so genau. John Bowlen hatte mit Ablehnung der zum Teil ärmlichen Landbevölkerung zu kämpfen. Da er aber einen Unterschlupf für die Nacht suchte, würde er wohl oder übel den Kontakt mit einem Bauern suchen müssen. Es war gefährlich für ihn, da große Teile des Landes durch deutsche Wachposten kontrolliert wurden. Vorsichtig schritt er voran, neben ihm teils verfallene Häuser. Auf einmal wurde er angerufen und ein Gewehrlauf zielte auf ihn. „Monsieur, qu’est que vous voulait?“

 

„Sprechen Sie Englisch?“ fragte Bowlen, sein Auge auf das Gewehr fixiert. Keine Antwort. „Ich bin Amerikaner. AMERIKANER!“ und deutete auf seine Uniform. Der Mann schien unbeeindruckt. „Quittez mon terrain!“ Es begann zu regnen und man hörte es leicht plätschern. John Bowlen wusste: Sollte er die Nacht im Zelt verbringen, war das sowohl für seine Gesundheit, als auch für sein Leben mit vermeidbaren Risiken verbunden. Er nahm seinen Rucksack ab und bot dem Fremden eine goldene Uhr an, die er mit sich trug. Dieser nahm den Lauf herunter und kam näher. „Pour moi?“, fragte er und Bowlen nickte. Nachdem er sich versichert hatte, dass die Uhr in gutem Zustand und offensichtlich nicht kaputt war, nahm er sie Dank nickend an. „Entrez!“

 

Das Haus des Franzosen war von einer schlichten Eleganz und bot für den Amerikaner einen wohligen Eindruck. Aber er war nicht wählerisch. Draußen goss es inzwischen in Strömen und er hätte lieber in einem Erdloch übernachtet, als dort draußen schlafen zu müssen. Eine schlanke Frau mittleren Alters stand mitten im Raum, sie hatte scheinbar das Gespräch mitangehört und wirkte etwas beunruhigt. Sie fragte ihren Mann, was wohl los sei und dieser schilderte ihr die Lage; das heißt, er teilte ihr mit, dass der Fremde offensichtlich Amerikaner sei und einen Unterschlupf für die Nacht suche. Die Frau sah John Bowlen an und sagte dann in gebrochenem Englisch: “Seien Sie uns willkommen Mister äh, wie heißen Sie denn?" Ihr Blick verriet sowohl Neugier als auch ein bisschen Furcht.

 

Die Frau sprach etwas Englisch, sie hatte es früher gelernt, der Mann verstand kein Wort, aber das machte nichts, sie konnte übersetzen. Sie hieß Ivonne und ihr Mann Francois Bachard. „Vielen Dank, dass sie mich hereingebeten haben“, sie übersetzte. „Ohne sie wärs etwas ungemütlich für mich geworden.“ John Bowlen deutete auf sein Zelt, das neben dem Rucksack in der Ecke lag und nach draußen. „Oh, pas de probleme..“ „Es macht ihm nichts aus.“, sagte die Frau. Bowlen und der Mann saßen auf einer alten, aber hübschen Ledercouch, die Frau auf einem Sessel ihnen schräg gegenüber. Auf dem Tisch stand ein Strauß gelber Feldblumen in einer Vase und an den Wänden hingen ein paar Bilder, nicht zu groß, mit teils ländlichen, teils etwas moderneren Motiven.

 

Bowlen konnte die Nacht in einem Gästezimmer verbringen und verstand sich mit seinen Gastgebern so gut, dass er versprechen musste, ihnen eine Karte zu schreiben, falls er, hoffentlich wohlauf, in seine Heimat zurückgekehrt sei. Als der Krieg vorüber war, arbeitete John Bowlen mal hier, mal da, wo eben Arbeit zu finden war; der Krieg hatte auch im eigenen Land seine Spuren hinterlassen. Und wie das manchmal mit guten Vorsätzen ist, es kam nie dazu, dass er die Karte schrieb, obwohl er oft an die kurze und freundliche Bekanntschaft in Frankreich denken musste.

 

Er setzte sich auf die Parkbank, und sprach den Fremden an.

 

Wie alles endete

 

„Entschuldigen Sie, kennen wir uns nicht?“ Der Angesprochene zögerte und musterte Bowlen einen Augenblick. „Hm, nein Sir, ich habe Sie noch nie gesehen.“ „Monsieur Bachard?“ „Tut mir leid, mein Name ist Parker.“ „Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie verwechselt...“ „Kein Problem Sir.“ Bowlen blieb noch einen kurzen Moment sitzen, stand dann auf und machte sich auf den Nachhauseweg. Die Luft hatte eine angenehme Temperatur, aber John Bowlen fühlte sich etwas unwohl. Die Begegnung mit dem Fremden war ihm, der er immer sehr korrekte Umgangsformen hatte, unangenehm. „Verrückt“, dachte er „sah aus wie Bachard.“

 

In dem großen, schönen Mietshaus, das am Westufer des East River lag, bewohnte Bowlen das oberste Stockwerk. Die Wohnung war nicht zu klein und nicht zu groß, genau richtig für einen alten Junggesellen. Bowlen ruhte sich etwas aus. Er war müde und gönnte sich öfter einen Mittagsschlaf. Er war alt geworden, sehr alt. In seinem Traum war er wieder jung, er sah sich Schlittenfahren im Winter, die Berghänge Montanas hinab, oder im Sommer beim Fischen. Er träumte von seiner großen Liebe Jennifer, mit der er lange zusammen war, bis sie ihn leid war und sich nach anderen Kerlen umkuckte. Er träumte von seinem Literaturstudium in Boston, das er begonnen und nie vollendet hatte. Von seiner Familie und allen Bekanntschaften, die er im Laufe seines langen Lebens gemacht hatte. Er träumte und sollte von diesem Traum nicht mehr aufwachen.

 

Nachdem ein Bekannter sich darüber wunderte, warum John nicht mehr ans Telefon ging und der Postbote, warum John Bowlen die Post nicht mehr aus dem Briefkasten nahm, wurde die Polizei verständigt. Ein junger Mediziner stellte an einem warmen Juniabend den Tod John Bowlens fest, der wahrscheinlich durch Herzstillstand verursacht worden war. Davon uneingenommen, wehte ein Ahornblatt am Fenster vorbei. Und der East River kräuselte seine Oberfläche. Und irgendwo, draußen im Central Park, gingen zwei Verliebte vorüber und freuten sich, am Leben zu sein.

 

© 13.05.2006 / 07.03.2009